Trigon Raphaeli

Donnerstag, 20. Oktober 2011

Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben







Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben

Eva Mozes Kor, in Mengeles Experimenten gepeinigter Zwilling, über die Befreiung aus der Opfer-Rolle

Eva Mozes Kor ist als Zehnjährige mit ihrer Zwillingsschwester Miriam Opfer der medizinischen Experimente Joseph Mengeles in
Ausschwitz geworden und haben es wie durch ein Wunder überlebt.

Wetzler: Sie vertreten seit einigen Jahren vehement eine Position, die man von einer Überlebenden des Holocaust nicht erwartet.
Sie plädieren dafür, den Tätern zu vergeben.

Eva Mozes Kor: Ja, und zwar deswegen, weil es dem Opfer hilft, gesund zu werden. Es geht dabei nicht so sehr um die Täter. Ich
halte vor allem deshalb mehr von Vergebung als von Gerechtigkeit, weil Gerechtigkeit den Opfer nicht hilft. Mit Strafe und
Gerechtigkeit kann ich als Opfer nichts anfangen. ....

Wetzler: Sie werden in der Opferrolle fixiert, weil die Leute Sie so sehen wollen und von Ihnen erwarten, dass Sie sich genauso
sehen.

Eva Mozes Kor: Ich lehne es einfach ab, die Rolle als Opfer zu spielen. Als ich mit dem Vergeben begonnen hatte, fiel eine Last
von meinen Schultern, die ich fast 50 Jahre mit mir rumgetragen hatte. Die Vergebung schafft einfach die Möglichkeit, dass ein
Opfer wieder zu jemanden wird, der kein Opfer ist. Der Schmerz verschwindet, und man ist einfach ein ganz normaler Mensch.
Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben.

Wetzler: Ein Recht, das ihm die Autonomie über sein Leben zurückgibt.

Eva Mozes Kor: Exakt. Ein Opfer ist eine Person, die j e d e m Geschehen hilflos, hoffnungslos und passiv ausgesetzt ist, das ihr
widerfährt.

...

Wetzler: Was tun sie, um ihr Konzept der Vergebung zu verbreiten?

Eva Mozes Kor: Ich halte Vorlesungen darüber und ich könnte mir vorstellen, entsprechende Workshops durchzuführen, um zu
zeigen, wie einfach es ist. Man kann auf einen Zettel schreiben, was einem jemand angetan hat. Und man kann dann überlegen,
ob man dieser Person vergeben kann. Und in dem Augenblick, wo man das tut, ist man einen große Teil seiner Probleme los.

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SHALOM

AHAWA


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Wahrheit heilt


Wie eine Auschwitz-Überlebende die Zwillingsversuche der Nazis bewältigt
Eva Mozes Kor

Es war im Morgengrauen an einem Frühlingstag des Jahres 1944, als ich in Auschwitz ankam. Unser Zug mit den Viehwaggons hielt plötzlich an. Ich hörte draußen deutsche Stimmen Befehle brüllen. Unsere Familie bestand aus meinem Vater, meiner Mutter, meiner ältesten Schwester Edit, meiner mittleren Schwester Aliz und Miriam und mir, wir waren erst zehn Jahre alt. Sobald wir auf den zementierten Bahnsteig hinaustraten, packte meine Mutter meine Zwillingsschwester und mich an der Hand, weil sie hoffte, uns so irgendwie zu beschützen. Alles ging ganz schnell. Als ich mich umschaute, merkte ich plötzlich, dass mein Vater und meine beiden älteren Schwestern verschwunden waren - ich sah keinen von ihnen jemals wieder.
Als Miriam und ich uns an die Hand meiner Mutter klammerten, eilte ein SS-Mann vorbei und rief: "Zwillinge! Zwillinge?" Er blieb stehen und schaute meine Zwillingsschwester und mich an, weil wir gleich gekleidet waren und uns sehr ähnlich sahen. "Sind das Zwillinge?", fragte er. "Ist das gut?", fragte meine Mutter. "Ja", nickte der SS-Mann. "Ja, sie sind Zwillinge", sagte meine Mutter. Ohne Warnung oder Erklärung riss er Miriam und mich von Mutter weg. Unser Schreien und Flehen traf auf taube Ohren. Ich erinnere mich daran, wie ich zurückschaute und sah, dass meine Mutter ihre Arme voller Verzweiflung ausstreckte, während sie von einem SS-Soldaten in die entgegengesetzte Richtung gezerrt wurde. Ich kam nicht dazu, ihr "Auf Wiedersehen" zu sagen, und ich kam nie mehr dazu, denn dies war das letzte Mal, dass wir sie sahen. (...)
Wir wurden zu einem riesigen Gebäude gebracht und erhielten den Befehl, uns nackt auf Bänke zu setzen, während unsere Kleidung weggebracht wurde. Es war spät am Nachmittag, als unsere Kleidung zurückkam. Auf dem Rücken war ein großes rotes Kreuz aufgemalt. Dann begann unsere Behandlungstortur. Als sie meinen Arm packten, um ihn zu tätowieren, begann ich zu kreischen, zu treten und zu zappeln. Vier Leute hielten mich fest, mit all ihrer Kraft, während sie einen stiftartigen Apparat erhitzten, bis er rotglühend war. Dann tauchten sie ihn in Tinte und brannten Punkt für Punkt in Großbuchstaben die Nummer A-7063 in mein Fleisch.
Wir wurden in eine Baracke voller Mädchen gebracht, Zwillinge im Alter von ein bis dreizehn Jahren. Damals erfuhren wir von den riesigen rauchenden Kaminen und den lodernden, hoch über sie hinausschlagenden Flammen. Wir hörten von den zwei Gruppen von Leuten, die wir auf der Selektionsrampe gesehen hatten, und was mit ihnen geschehen war. Wir erfuhren, dass wir nur deshalb noch am Leben waren, weil Dr. Mengele uns für seine Experimente verwenden wollte. (...)
Ehe ich wieder versuchte zu schlafen, gingen Miriam und ich zur Latrine am Ende der Baracke. Auf dem schmutzigen Boden lagen die Leichen von drei Kindern. Ihre Körper waren nackt und ausgemergelt, und ihre weit aufgerissenen Augen starrten mich an. Da wurde mir klar, dass dieses Schicksal auch Miriam und mir drohte, wenn ich nichts dagegen unternahm, um es zu verhindern. Also fasste ich einen stummen Entschluss: "Ich werde alles tun, was in meiner Macht liegt, um zu verhindern, dass Miriam und ich auf diesem dreckigen Latrinenboden enden."
Nichts auf der Welt kann einen Menschen auf einen Ort wie Auschwitz vorbereiten. Als Zehnjährige wurde ich einer besonderen Gruppe von Kindern zugeteilt, die von Dr. Josef Mengele als menschliche Versuchskaninchen verwendet wurden. Ungefähr 1500 Zwillingspärchen wurden von Mengele für seine tödlichen Experimente eingesetzt. Es wird geschätzt, dass weniger als 200 Einzelpersonen überlebten. (...)
Nach einer Injektion in Mengeles Labor wurde ich sehr krank. Ich versuchte diese Tatsache zu verheimlichen. Es ging das Gerücht um, dass keiner, der in die Krankenabteilung gebracht wurde, je zurückkehrte. Bei meinem nächsten Besuch im Labor wurde bei mir Fieber gemessen, und man brachte mich in die Krankenabteilung. Am nächsten Tag schaute ein Team, bestehend aus Dr. Mengele und vier anderen Ärzten, meine Fieberkurve an und erklärte: "Schade, dass sie noch so jung ist. Sie hat nur noch zwei Wochen zu leben." Ich weigerte mich, das Urteil anzunehmen. Und fasste meinen zweiten stummen Entschluss: "Ich werde alles tun, was in meiner Macht steht, um gesund und wieder mit meiner Schwester Miriam vereint zu werden." In der Krankenhausbaracke erhielten wir kein Essen und keine Medikamente. Die Leute wurden in diese Baracke gebracht, um zu sterben oder auf einen Platz in der Gaskammer zu warten. Ich war sehr krank, geschüttelt vom Fieber, hing zwischen Leben und Tod. Ich erinnere mich daran, dass ich auf dem Boden der Baracke aufwachte. Ich kroch, weil ich nicht mehr laufen konnte. Ich wollte zu einem Wasserhahn am anderen Ende der Baracke. Dabei wurde ich immer wieder bewusstlos. Ich sagte mir immer wieder: "Ich muss überleben. Ich muss überleben."
Nach zwei Wochen war mein Fieber überwunden und ich begann mich kräftiger zu fühlen. Wenn die so genannte Krankenschwester hereinkam, das Thermometer unter meinen Arm steckte und den Raum wieder verließ, nahm ich es heraus, las es ab, und wenn die Temperatur zu hoch war, schüttelte ich das Thermometer ein bisschen herunter. Dann steckte ich es wieder unter meinen Arm. Nach drei Wochen zeigte ich normale Temperatur und konnte wieder zu Miriam. Was für ein glücklicher Tag! Wäre ich gestorben, dann hätte Mengele Miriam mit einer Injektion ins Herz getötet und hätte an unseren Körpern vergleichende Autopsien vorgenommen. Auf diese Art starben die meisten der Zwillinge.
Dreimal in der Woche gingen wir in das Hauptlager von Auschwitz zu Experimenten. Diese dauerten sechs bis acht Stunden. Wir mussten nackt in einem Raum sitzen. Jeder Teil unseres Körpers wurde vermessen, betastet, mit Tabellen verglichen und fotografiert. Auf jede Bewegung wurde geachtet. Ich fühlte mich wie ein Tier in einem Käfig. Dreimal in der Woche gingen wir ins Blutlabor. Dort wurden uns Keime und Chemikalien injiziert, und sie nahmen uns viel Blut ab. Ich habe gesehen, wie einige Zwillinge ohnmächtig wurden, weil sie so große Mengen Blut verloren. Ich glaube, die Nazis wollten wissen, wie viel Blut ein Mensch verlieren kann, ehe er daran stirbt.
Mengele hatte einen unbegrenzten Vorrat an menschlichen Versuchskaninchen im Lager. Wenn ein Zwillingspaar bei den Experimenten gestorben war, kam ein neues Zwillingspaar mit dem nächsten Transport, um das Paar zu ersetzen, das getötet worden war.
An einem verschneiten Tag, dem 27. Januar 1945, vier Tage vor meinem 11. Geburtstag, wurde Auschwitz von den Sowjets befreit, und wir waren frei. Wir waren am Leben. Wir hatten über unglaublich Böses triumphiert. (...)
Ich möchte, dass Sie meinen abschließenden Akt der Heilung von den Schrecken vor 56 Jahren miterleben. Ich weiß sehr wohl, dass viele meiner Mitüberlebenden meine Art der Heilung nicht nachempfinden, unterstützen oder verstehen werden. Ich glaube aber, wir sollten nicht auf ewig weiter leiden. (...)
Ich habe den Nazis vergeben. Ich habe allen vergeben. Bei den Veranstaltungen zum 50. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz, während einer Zeremonie, bei der meine Kinder Alex und Rina sowie Freunde anwesend waren, traf ich mit einem früheren SS-Arzt in Auschwitz, Dr. Hans Münch, und mit seinen Kindern und seiner Enkelin zusammen. (...) Von Dr. Münch wurde ein Dokument über die Gaskammern in Auschwitz vorgelesen, und er unterschrieb es. Ich verlas meine Amnestie-Deklaration und unterschrieb sie dann. Ich fühlte, wie eine Bürde des Schmerzes von meinen Schultern genommen wurde. Ich war nicht länger ein Opfer von Auschwitz. Ich war nicht länger eine Gefangene meiner tragischen Vergangenheit. Ich war endlich frei (...)
Die meisten Regierungen und Staatschefs der Welt empfehlen und unterstützen nur eine Sache - Gerechtigkeit. Gerechtigkeit existiert nicht, und durch ihre Forderung nach Gerechtigkeit verdammen sie die Opfer zu lebenslänglichem Leiden. Lassen Sie uns ein mögliches Vorgehen untersuchen, das die Dinge sowohl für die Opfer als auch für die Täter hätte verändern können.
Alle Naziverbrecher wären ermutigt worden, sich zu stellen und sich zu den von ihnen begangenen Verbrechen zu bekennen, als Gegenleistung für ihre Freiheit. Die Verbrecher oder Täter müssten außerdem fünf bis zehn Jahre lang eine finanzielle Wiedergutmachung leisten, und diese Gelder kämen in einen besonderen Versöhnungsfonds, um den Opfern dabei zu helfen, ihr Leben neu aufzubauen. Die Opfer könnten als Zeugen aussagen, wenn sie es wollten. Die Aussagen der Täter würden die Leiden der Opfer bestätigen.
So wie es heute aussieht, habe ich immer noch nicht verstanden, was uns angetan wurde. Aber Mengele hätte dieses Problem lösen können, wenn er ausgesagt hätte. Sowohl die Opfer als auch die Täter hätten - durch die Verbalisierung ihrer schmerzlichen Erinnerungen - sofort den Heilungsprozess einleiten können.
Doch war es so, dass die Opfer schwiegen und litten. Die Täter schwiegen, litten und versteckten sich. Die Opfer krümmten sich vor Schmerzen. Die Täter krümmten sich vor Schmerzen, vor Scham und vor Angst, sie könnten erwischt werden. Zu all dem kam noch die Tragödie dazu, dass die Opfer ihren Kindern ein Erbe aus Schmerz, Angst und Wut weitergaben. Auch die Täter gaben an ihre Kinder ein Erbe aus Schmerz, Scham und Angst weiter. Wie können wir eine gesunde, friedliche Welt gestalten, solange all diese schmerzhaften Vermächtnisse unter der Oberfläche weiter wirken? Wir haben in Bosnien, im Kosovo und in Ruanda gesehen, dass die Opfer zu Tätern und die Täter zu Opfern geworden sind. Lassen Sie uns etwas Neues ausprobieren, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.
Dies ist die gekürzte Fassung einer Rede, die Eva Mozes Kor 2001
zur Eröffnung des Symposiums "Biowissenschaften und Menschenversuche an Kaiser-Wilhelm-Instituten" in Berlin gehalten hat
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Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben"
Eva Mozes Kor, in Mengeles Experimenten gepeinigter Zwilling, über ihre Befreiung aus der Opfer-Rolle

Eva Mozes Kor ist als Zehnjährige mit ihrer Zwillingsschwester Miriam Opfer der medizinischen Experimente Joseph Mengeles in Auschwitz geworden. Die Schwestern gehörten zu den wenigen, die Mengeles Forschung und das Lager überlebt haben. Nach dem Tod ihrer Schwester gründete Eva Mozes Kor eine Gesellschaft und ein Museum für die Opfer medizinischer Versuche in der Nazi-Zeit. Bei einer Tagung zum historischen Erinnern am Kulturwissenschaftlichen Institut in Essen sprach Harald Welzer mit der heute 69-Jährigen, die in den USA lebt. Welzer leitet die Forschungsgruppe "Erinnerung und Gedächtnis" des Essener Instituts und lehrt Sozialpsychologie an der Uni Witten-Herdecke.

Harald Welzer: Sie vertreten seit einigen Jahren vehement eine Position, die man von einer Überlebenden des Holocaust nicht erwartet. Sie plädieren dafür, den Tätern zu vergeben.
Eva Mozes Kor: Ja, und zwar deswegen, weil es dem Opfer hilft, gesund zu werden. Es geht dabei nicht so sehr um die Täter. Ich halte vor allem deshalb mehr von Vergebung als von Gerechtigkeit, weil Gerechtigkeit den Opfern nicht hilft. Ich bin gefragt worden, ob ich dafür gewesen wäre, dass Mengele zum Tode verurteilt worden wäre, gesetzt den Fall, man hätte ihn gekriegt. Was hätte ich davon, wenn er tot wäre? Mir wäre er lebend lieber gewesen, weil ich ihn dann hätte fragen können, was er mir injiziert hat. Mit Strafe und Gerechtigkeit kann ich als Opfer wenig anfangen. Verbrecher können bestraft und aus dem Verkehr gezogen werden. Jemand wie Hitler wäre wahrscheinlich schwer zu rehabilitieren gewesen, so jemand muss aus dem Verkehr gezogen werden. Aber das alles nützt den Opfern nichts.

Sie haben sich mit Ihrem Votum für Vergebung nicht nur Freunde gemacht.
Allerdings. Seit ich den Nazis vergeben habe, wollen 75 Prozent der Überlebenden nicht mehr mit mir reden. Sie verstehen nicht, dass es dabei nicht um die Täter geht. Für mich ist die Frage der Heilung entscheidend. Ich wollte in der Lage sein, Auschwitz zu besuchen und abends in eine Bar gehen und tanzen zu können. Ich habe mal erlebt, dass sich ein Journalist am Telefon darüber wunderte, dass ich über irgendetwas lachen musste. Ich fragte ihn, was er erwartete - ob es mir nicht erlaubt sei zu lachen, weil ich Auschwitz überlebt hatte?

Sie werden in der Opferrolle fixiert, weil die Leute Sie so sehen wollen und von Ihnen erwarten, dass Sie sich genauso sehen.
Ich lehne es einfach ab, die Rolle des Opfers zu spielen. Als ich mit dem Vergeben begonnen hatte, fiel eine Last von meinen Schultern, die ich fast 50 Jahre mit mir herumgetragen hatte. Die Vergebung schafft einfach die Möglichkeit, dass ein Opfer wieder zu jemandem wird, der kein Opfer ist. Der Schmerz verschwindet, und man ist einfach ein ganz normaler Mensch. Ein Überlebender hat das Recht zu vergeben.

Ein Recht, das ihm die Autonomie über sein Leben zurückgibt.
Exakt. Ein Opfer ist eine Person, die jedem Geschehen hilflos, hoffnungslos und passiv ausgesetzt ist, das ihr widerfährt.

Wie sind sie denn darauf gekommen, dass sie vergeben könnten?
Es hing damit zusammen, dass meine Zwillingsschwester gestorben ist, 1993. Das war ein extremer Verlust für mich, ich war sehr verzweifelt, und ich dachte, dass ich irgend etwas in ihrem Andenken tun müsste. Ich wusste aber nicht, was. Damals bekam ich eine Einladung zu einer Konferenz über NS-Medizin. Der Veranstalter regte am Telefon absurderweise an, dass ich doch einen Nazi-Doktor mit zu der Tagung bringen sollte. Ich sagte: "Wo um alles in der Welt soll ich einen Nazi-Doktor hernehmen? So viel ich weiß, inserieren die nicht im Branchenverzeichnis."Aber ich dachte tatsächlich darüber nach, und mir fiel ein, dass wir im Jahr zuvor an einem ZDF-Feature über Mengele mitgearbeitet hatten, in dem auch Dr. Münch eine Rolle spielte. Ich habe seine Adresse erfragt und mich mit ihm in Verbindung gesetzt. Im August 1993 bin ich also nach Deutschland geflogen, um einen Nazi-Doktor kennen zu lernen. Ich hatte furchtbare Angst und dachte, das würde ich nicht aushalten. Aber zugleich war ich extrem neugierig, ob ich etwas über Mengeles Experimente herausfinden könnte. Ich war sehr überrascht, mit welchem Respekt Münch mich behandelte. Leider wusste er nicht viel über die Zwillingsexperimente, aber es war interessant zu erfahren, dass es Nazis gab, die Albträume wegen Auschwitz hatten. Als wir über die Gaskammern sprachen, sagte er, das sei der Albtraum, den er jede Nacht habe. Ich fragte ihn, ob er bereit sei, mit mir nach Auschwitz zu fahren und dort ein Dokument darüber zu unterzeichnen, was geschehen war und was seine Rolle dabei war. Mir ging es dabei zunächst hauptsächlich darum, etwas gegen die Revisionisten und Holocaust-Leugner zu tun.
Danach dachte ich, ich müsste Münch irgendwie etwas zurückgeben, aber ich hatte keine Idee, was das sein könnte. Monatelang fiel mir nichts ein, aber plötzlich kam ich darauf, dass ich ihm einfach vergeben könnte, was er getan hatte, und in diesem Augenblick habe ich etwas ungeheuer Wichtiges verstanden: dass ich die Macht hatte, ihm zu vergeben. Das war eine unglaubliche Entdeckung! Das kleine Mengele-Versuchskaninchen, das sein ganzes Leben lang hilflos gewesen war, hatte plötzlich Macht! Die Vorstellung, dass ein Opfer für sein ganzes Leben machtlos bleibt, ist vielleicht das größte, das überwältigendste Problem, das es hat.

Die Trauma-Therapie zielt eigentlich auf das genaue Gegenteil. Die Ideologie des Durcharbeitens und Konfrontierens schreibt den Opferstatus fest, obwohl sie ihn zu beseitigen vorgibt.
Ich bin in Therapie gewesen. Mein Therapeut hat zu mir gesagt, ich sei eigentlich zu normal für das, was mir widerfahren ist. Wenn man so will, hat er von mir erwartet, traumatisierter zu sein. Ich habe mir im Januar den Knöchel gebrochen. Als Opfer hätte ich gedacht: Ich habe mir den Knöchel gebrochen, weil ich in Auschwitz war. Meine Knochen sind zu schwach, weil die Ernährung so schlecht war. Es gibt für alles, was einem passiert, eine Erklärung, die nach Auschwitz zurückführt. Tatsächlich hat vieles nicht das Geringste damit zu tun, aber das ist die Art, wie ein Opfer denkt. Wenn man aufhört, Opfer zu sein, verschwindet das. Natürlich hat man immer noch Probleme, aber man denkt nicht: und wieder passiert mir das! Das macht einen riesigen Unterschied.

Können Sie mir erzählen, wie Sie sich zuvor gefühlt haben?
Als ich jung war, gab es in meinem Leben nichts, was in Ordnung war. Ich war Waise, ich hatte nichts anzuziehen, ich lebte bei einer Tante, die sich kaum um uns kümmern konnte. Wir hatten jede Menge gesundheitliche Probleme, Ausschläge, schlechte Zähne, es gab kaum etwas zu essen in Rumänien. 1946 gab es den ersten Gedenktag für Auschwitz-Überlebende. Unser Rabbi bat darum, dass man, falls man noch Seife aus dem Lager besäße, diese mitbringen sollte, da sie aus menschlichem Fett gemacht sei. Seife war ungeheuer wichtig im Lager gewesen, und ich hatte noch zwei Stücke, die aus dem Lager stammten. Ich hatte mich von 1944 bis 1946 mit dieser Seife gewaschen! Ein Albtraum! Es gab niemandem, dem ich das erzählen konnte. In der Schule nannten sie uns "die dreckigen Juden". Wir gehörten nirgendwo hin. Als wir von Rumänien nach Israel gingen, wurde es etwas besser. Aber grundsätzlich blieb es dabei, dass wir zu niemandem gehörten. Es ist furchtbar für einen jungen Menschen, wenn er nirgendwo hingehört und niemand da ist, der sich um ihn kümmert. Und man konnte absolut nicht darüber sprechen, was geschehen war. Wenn ich darüber hätte sprechen können, hätte ich früher damit beginnen können, etwas gegen meinen Schmerz zu tun.

Haben Sie mit Ihren Kindern über Auschwitz geredet?
Ich habe immer mit meinen Kindern darüber geredet, was mir geschehen war. Die Kinder fragen danach. Meine Tochter kam eines Morgens heim, nachdem sie bei einer Freundin übernachtet hatte und sagte: "Mami, Mrs. Baker hat gar keine Nummer! Ich habe sie gefragt, warum sie keine Nummer hat. Ich dachte, alle Mamis haben eine Nummer." Mrs. Baker hat dann wohl gesagt, sie solle nach Haus gehen und mich fragen, was es mit der Nummer auf sich hat. Ich habe es ihr erzählt. Ich habe kein tiefes, dunkles Geheimnis daraus gemacht.

Was tun Sie, um Ihr Konzept der Vergebung zu verbreiten?
Ich halte Vorlesungen darüber und ich könnte mir vorstellen, entsprechende Workshops durchzuführen, um zu zeigen, wie einfach es ist. Man kann auf einen Zettel schreiben, was einem jemand angetan hat. Und man kann dann überlegen, ob man dieser Person vergeben kann. Und in dem Augenblick, wo man das tut, ist man einen großen Teil seiner Probleme los.

Lässt sich daraus auch ein Modell für postkoloniale Gesellschaften ableiten, die ja große Probleme mit ihrer Opfergeschichte haben?
Ich weiß nicht, wie lange sie brauchen werden, um mit der Vergangenheit klarzukommen. Die Wahrheitskommissionen in Südafrika sind ja ein Schritt in diese Richtung, und ich glaube, die Opfer sparen sich damit ein paar Jahre des Leidens. Meine 48 Jahre Leiden waren jedenfalls zu lang.

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